Rauchen ist eine Sucht. Oder nicht? Dass Nikotin eine abhängigkeitserzeugende Substanz ist, steht außer Zweifel. Als Erkrankung ist die Tabakabhängigkeit im Gegensatz zur Alkoholabhängigkeit dennoch in Deutschland nicht anerkannt. Deshalb stellt das Gesundheitssystem nur in begrenztem Umfang Mittel zur Behandlung zur Verfügung, obwohl das seit Jahren von Fachverbänden wie der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie (DGP) angemahnt wird.
Die Vielschichtigkeit der Nikotinabhängigkeit
Die Sucht ist ein unwiderstehliches Verlangen nach einem bestimmten Zustand oder Erleben, dem alles andere untergeordnet wird. Mit den Mitteln des Verstandes ist diesem Verlangen nichts entgegenzusetzen. Im Extremfall werden die freie Persönlichkeitsentfaltung und soziale Chancen beeinträchtigt. Im Sprachgebrauch der WHO und der Medizin wird anstelle von Sucht der Begriff der Abhängigkeit verwendet.
Im Zusammenhang mit Tabakrauchen und dem suchterzeugenden Inhaltsstoff Nikotin wird im deutschen Sprachraum einerseits von einem (für bestimmte Altersgruppen) erlaubten, aber schädlichem Gebrauch gesprochen, sobald Tabak konsumiert wird. Der Begriff der Abhängigkeit dagegen beinhaltet die Kriterien der Sucht und wird unterteilt in psychische und physische Abhängigkeit:
Die psychischen Faktoren betreffen das zwanghafte Verlangen nach Tabakkonsum und den damit verbundenen Kontrollverlust.
Die physische Abhängigkeit beschreibt den Konsum zum Zweck der Minderung von Entzugssymptomen, die zunehmende Toleranz gegenüber Nikotin und die Fortsetzung des Rauchens trotz bereits eingetretener und unübersehbarer Folgeschäden.
Andere Kriterien der Abhängigkeit, wie Vernachlässigung sozialer Interessen, kontinuierliche Dosissteigerung, Interessenverlust, wie sie für andere Abhängigkeitserkrankungen typisch sind, werden bei Rauchern nur extrem selten angetroffen.
Die schmale Grenze zwischen Genuss und Abhängigkeit
Nach strengen Regeln wäre bereits eine einzige Zigarette ein schädlicher Gebrauch und jedes Jahr zu Sylvester eine Zigarre zu rauchen eine Abhängigkeit. Nicht jeder Raucher wird von sich behaupten wollen, an einer Abhängigkeitserkrankung zu leiden. Das wäre auch nicht für jeden zutreffend. Es gibt viele Arten des Rauchens und nicht jede erfüllt die Kriterien einer Abhängigkeit:
Einige Menschen rauchen nur in ganz bestimmten Situationen und spüren ansonsten kein Verlangen. Andere pausieren für Monate, um dann wieder wochenlang zu rauchen. Wiederum andere rauchen regelmäßig in geringer Menge und würden sich dennoch nicht als abhängig bezeichnen. Andererseits gibt es unzweifelhaft diejenigen, die eine starke psychische und physische Abhängigkeit aufzeigen und sich dessen auch bewusst sind.
Die neurobiologische Grundlage der Nikotinabhängigkeit
Das Phänomen der Abhängigkeit ist gebunden an die Funktionsweise des Gehirn. Wir alle verfügen über ein ausgeklügeltes System von Nervenzellen, Hormonen und Botenstoffen, die ein Belohnungssystem bilden. Dieses ist wichtig, um uns bei erfolgreichen Handlungen auch ein Gefühl des Erfolgs zu vermitteln. Erfolg macht glücklich.
Einige Substanzen aus der Natur (Inhaltsstoffe von Pflanzen oder Pilzen), Alkohol, synthetische Drogen und eben auch Nikotin (hergestellt von der Tabakpflanze zur Abwehr von Fressfeinden) aktivieren unser Belohnungssystem. Sie tun das allerdings auf eine unnatürliche Weise, auf die unser Körper nicht eingerichtet ist:
Es kommt zu einer extremen Ausschüttung von Botenstoffen und in der Folge wird das System nur von einem sehr hohen Level dieser Botenstoffe aktiviert. Es tritt ein Gewöhnungseffekt ein und ein gutes Befinden kann ab dann durch die eigenen, natürlichen Mechanismen nicht mehr hervorgerufen werden, es entsteht ein Mangelzustand. Für Glücksgefühle bedarf es dann der Droge. Ist diese nicht in hinreichender Menge vorhanden, kommt es zu Missempfindungen, die je nach Droge unangenehm bis unerträglich sind.
Nikotin hat gewissermaßen eine Sonderstellung unter den Drogen, da trotz Abhängigkeit der Zwang zur ständigen Steigerung der Dosis ausbleibt. Symptome eines Entzugs sind individuell verschieden und können völlig fehlen.
Die Fragwürdigkeit von Tests und die Einzigartigkeit jeder Person
Das am weitesten verbreitete Instrument zur Einschätzung der Tabakabhängigkeit ist der von Karl Fagerström im Jahr 1975 veröffentlichte und nach ihm benannte Fragebogen. Dieser kann im Netz abgerufen werden. Der Test zielt im Wesentlichen auf die Intensität der körperlichen Abhängigkeit. Unzweifelhaft macht Nikotin körperlich abhängig, allerdings entwickelt sich auch aufgrund psychischer Faktoren eine teilweise sogar noch stärkere Abhängigkeit. Für die Betroffenen ist schwer zu unterscheiden, welche Faktoren überwiegen. Es ist nicht entscheidend, wie intensiv eine Abhängigkeit ausgeprägt ist und ob physische oder psychische Faktoren überwiegen.
Aus meiner Erfahrung ist es gar nicht wichtig, welche Punkte welches Fragebogens wie beantwortet werden.
Rauchen ist ein ausgeprägt individuelles Verhalten mit einem komplexen Geflecht
der unterschiedlichsten Faktoren. Die Frage nach dem Ausmaß der körperlichen Abhängigkeit kann eventuell entscheidend sein für das Für und Wider einer Nikotinersatz-Therapie oder sonstiger begleitender Maßnahmen.
Selbstbestimmung vs. Sucht: Der Raum zwischen Verlangen und Entscheidung
Der Grad einer körperlichen oder psychischen Abhängigkeit ist individuell sehr verschieden . Die subjektive Beurteilung der Abhängigkeit kann in die Irre führen und die Betroffenen täuschen sich oft über die tatsächlichen Verhältnisse. Die Abhängigkeit wird gelegentlich auch mal als Entschuldigung genutzt: „Da ich abhängig bin, kann ich ja gar nichts ändern, die Sucht zwingt mich und ich kann nichts dagegen tun“. Niemand ist dem Verlangen nach Zigaretten völlig hilflos ausgeliefert. Unabhängig vom Impuls der von physischer oder psychischer Abhängigkeit ausgeht, ist es immer die Person selbst, die handelt und zur Zigarette greift. Zwischen Impuls und Handlung liegt ein Raum, den Sie nutzen können. Letztlich geht es um die Frage aufhören oder nicht.